Gamsbart

Für einen Wormser Stammtisch gab es einen unverzichtbaren Höhepunkt des Jahres, das war der Vatertagsausflug an Christi Himmelfahrt. Man traf sich an dem betreffenden Donnerstag des Jahres 1965 am Hauptbahnhof und fuhr mit dem Zug nach Nieder-Flörsheim. Von dort aus ging es zu Fuß durch die Weinberge Richtung Zellertal. In Mölsheim war die erste Einkehr, wo sich die durstigen Stammtischler zunächst mal ordentlich für den weiteren Fußmarsch nach Zell stärkten. Ziel war das bekannte Wirtshaus „Zum schwarzen Herrgott“ in Zell, wo der Rest des Jahresausfluges verbracht werden sollte. Unter den Ausflüglern waren auch zwei „Schneider“. Der eine war von Beruf „Schneider“, der andere hatte den Namen „Schneider“. Den Berufsschneider nannten sie den „Zuschneider“, den anderen, weil er öfters zum Angeben neigte, unter vorgehaltener Hand den „Aufschneider“. Er machte auch diesmal seinem Namen alle Ehre, denn der Jäger hatte sich für den Vatertagsausflug in grünem Jägeranzug gekleidet und die hagere Gestalt wurde durch einen großen breitkrempigen Hut mit einem mächtigen Gamsbart gekrönt. Diesen hatte er im „Schwarzen Herrgott“ auf einen Haken an der Garderobe gehängt. Es ging mittlerweile schon hoch her, als „Aufschneider“ aufstand, um zur Toilette zu gehen. Diesen Moment nutzte „Zuschneider“, holte den Hut vom Haken, nahm die Maggi-Flasche, die neben Zahnstocher, Pfeffer- und Salzstreuer mitten auf dem Wirtshaustisch stand, bespritzte den Gamsbart ordentlich mit Maggi und hängte ihn wieder auf seinen Platz. „Aufschneider“ kam zurück und gutgelaunt wurde weiter diskutiert, die Weltpolitik zurechtgerückt, Witze erzählt, als „Zuschneider“ plötzlich in die Runde fragte: „Wie kann man denn eigentlich einen echten von einem unechten Gamsbart unterscheiden?“ Der „Aufschneider“ fühlte sich als großer Jäger persönlich ange­sprochen und erklärte: „Wie man das genau unter­scheidet, weiß ich nicht; ich weiß nur eines: ‚Meiner ist echt’!“ Der „Zuschneider“ fuhr fort: „Mir hat mal ein alter Jäger gesagt, dass Gamsbärte nur echt sind, wenn sie nach Maggi riechen. Wenn deiner echt ist, müsste er nach Maggi riechen.“ Der Gesichtsausdruck von „Aufschneider“ nahm merkwürdige Züge an. Seinen Gamsbock hat er persönlich geschossen, der Gamsbart ist echt, aber dass er nach Maggi riecht, das hat er noch nie bemerkt. „Zuschneider“ fragt nach. „Was ist jetzt, ist dein Gamsbart echt oder nicht?“ „Mein Gamsbart ist echt, aber er riecht nicht nach Maggi!“ „Aufschneider“ wurde langsam ungemütlich: „Wer behauptet, mein Gamsbart ist unecht, hat keine Ahnung und zahlt die nächste Runde!“ „Zuschneider“ wird spitzbübig und dreht den Spieß um: „Und wenn ich den Beweis erbringe, dass dein Gamsbart echt ist, zahlst du die nächste Runde.“ „Aufschneider“ erkannte die Chance, dass seine Jägerehre wiederhergestellt würde. Das war ihm viel wert. „Für den objektiven Beweis, dass mein Gamsbart echt ist, zahle ich zwei Runden!“ Wortlos stand „Zuschneider“ auf, ging zur Garderobe, holte Hut mit Gamsbart und hielt ihn „Aufschneider“ unter die Nase. Seine Gesichtszüge nahmen groteske Formen an. Die Situation war unbeschreiblich. Sowas hatte er noch nicht erlebt. „Ja, er riecht nach Maggi“ stieß er hervor. „Hab dir doch gleich gesagt, dass er echt ist. Zwei Runden“! jubelte der „Zuschneider“. Große Zustimmung am Stammtisch. Noch nie haben zwei Gläser Wein dem „Zuschneider“ so gut geschmeckt, wie diese von „Aufschneiders“ Runde. Auf dem Heimweg nach Worms redete „Aufschneider“ kein Wort mehr. Er verstand die Welt nicht mehr.

 

 

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