Im Namen des Volkes

Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahr­hundert gab es beim Wormser Amtsgericht zwei Amts­richter, die sich beide vom Studium her gut kannten. Sie hatten beide in Heidelberg Rechtswissenschaften studiert, waren in einer schlagenden Verbindung und hatten schon während ihres Studiums gemeinsam manchen schäumenden Humpen geleert. Auch als Amtsrichter waren sie dem einen oder anderen Bier nicht abgeneigt und gründeten einen Juristenstamm­tisch. Jeden Donnerstag, nachdem sie genug Recht gesprochen hatten, trafen sie sich in einem Wormser Wirtshaus. An einem dieser Donnerstage war es wieder mal soweit, sie saßen bei Zigarrenrauch vor ihren Biergläsern und klönten von alten Studenten­zeiten in Heidelberg. Sie hatten wohl schon einige Humpen ihrer ordnungsgemäßen Bestimmung zugeführt, als der eine sich ans Klavier setzte und alte Kommerslieder intonierte. Lauthals sangen sie das Lied vom Kurfürst Friedrich von der Pfalz, dem durstigen Zwergen Perkeo vom Heidelberger Schloss und natürlich das Lied vom Töchterlein ihrer Wirtin. Dem einen war gerade die Asche seiner Zigarre in den Bierschaum gefallen, als der andere ihm scheinbar ernsthaft erklärte, dass er eigentlich nicht Jura, sondern Theologie studieren und Pfarrer werden wollte. Der andere amüsierte sich über dieses Geständnis so, dass er sofort beim Wirt eine Runde guten Gundheimer Birnenschnaps bestellte, die beide selbstverständlich sofort zur Anwendung brachten.

Aber der verhinderte Theologe ließ nicht locker, er wollte beweisen, dass er die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagte. Deshalb stand er auf, zog die Tischdecke unter den Biergläsern weg, hängte sie sich als Talar über die Schultern, klemmte die Speise­karte als Bibel unter den Arm und stellte sich auf den Klavierstuhl, der als Kanzel herhalten musste. Als er dann anfing, eine Predigt zu halten über das Thema „Warum Gott schon im alten Testament die Menschen vor übermäßigem Alkoholgenuss warnte“, war es dem Wirt dann doch zuviel. Höflich aber bestimmt erklärte er den Respektspersonen, dass es schon weit nach Mitternacht wäre und ihre Frauen zu Hause sich sicher Sorgen machten. Jäh in ihrer Riesenstimmung unterbrochen, begaben sie sich auf den Heimweg.

Unterwegs war man jedoch einstimmig der Meinung, dass man sich von einer solch profanen Figur wie einem Wirt nicht das Wort verbieten lassen dürfe. „Und auch nicht den Ton“, fügte der Klavierspieler hinzu und stimmte sofort das nächste Kommerslied an. So torkelten beide dem trauten Heim zu, lauthals grölend durch die leeren Straßen des nächtlichen Worms. In Höhe des Wasserturms wurde ihr inzwischen wieder groß gewordenes Stimmungshoch ein zweites Mal jäh unterbrochen. Der Schutzmann Pf. stand plötzlich vor ihnen und herrschte sie an: „Halt! Stehen bleiben! Ruhestörung! Die Personalien!“ Alle Erklärungsversuche, alle Bitten um mildernde Umstände halfen nichts; der Gendarm blieb unerbittlich: „Diese Verstöße gegen die öffentliche Ordnung müssen zur Anzeige gebracht werden.“

Wenige Tage später lag die Anzeige über den Dienst­weg beim Wormser Amtsgericht vor. Alle Versuche, die unangenehme Angelegenheit unter den Tisch zu kehren, waren gescheitert. Dieser schwerwiegende Verstoß gegen die guten Sitten musste vor Gericht verhandelt werden. Am Tag der Verhandlung saß zunächst der verhinderte Theologe auf dem Platz des Prozess führenden Richters, der Klavier spielende Amtsrichter saß mit zerknirschtem Gesicht auf der Anklagebank. Nach den Vorhaltungen des Richters gab der Angeklagte den Tatbestand der nächtlichen Ruhestörung in vollen Umfang zu und bat um ein mildes Urteil. Da es keine weiteren Zeugen, keine anderen Einlassungen gab, konnte der vorsitzende Richter schnell zu seinem Urteil kommen. „Im Namen des Volkes verurteile ich sie wegen nächtlicher Ruhe­störung zu einer Geldbuße von fünf Reichsmark!“ Der Angeklagte nahm das Urteil an, die Verhandlung war geschlossen. Nun tauschten sie die Plätze. Jetzt war der Klavier spielende Amtsrichter der Vorsitzende, der Amtsrichter, der eigentlich Pfarrer werden wollte, mit demütigem Gesicht der Angeklagte. Auch er gab wie sein Vorgänger die Tat unumwunden zu, so dass der Richter schnell zu seinem Urteilsspruch kommen konnte: „Im Namen des Volkes verurteile ich sie zu einer Geldstrafe von zehn Reichsmark.“ „Aber Herr Richter“, entfuhr es dem Angeklagten, „in einem ähnlich gelagerten Fall war die Strafe nur fünf Reichsmark.“ Mit gestrengem Blick sagte der eine Amtsrichter zum anderen: „Das ist schon der zweite Fall von nächtlicher Ruhestörung, der heute hier vor dem Amtsgericht verhandelt wurde; dieser Unsitte muss dringend Einhalt geboten werden!“

 

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